Fischfutter

 
 
 
 
 
 

Das kräftige Ausatmen lässt einen milchigen Kreis auf der Scheibe vor ihm anwachsen. Durch ihn verschwinden Strukturen und Details, nur Licht und Farben bleiben sichtbar. Früher waren es ein Badezimmerspiegel, eine Autoscheibe oder das eingelassene Glas in der Haustür. Jetzt ist es die Fensterfront im 31. Stockwerk eines großen Unternehmens der Softwarebranche. Langsam hebt er den rechten Arm und streckt den Zeigefinger vor, als wollte er, wie damals, ein Symbol oder Wörter in die beschlagene Fläche malen. Unschlüssig über die Botschaft, zögert er einen Moment, bevor er den Finger aufsetzt. Der Schleier zieht sich bereits zurück, aber zu seiner Überraschung wird die Sicht nicht klarer. Er spürt, wie sich Feuchtigkeit an den Unterlidern seiner Augen gesammelt hat. Für eine Träne, die das Fass zum Überlaufen bringt, reicht es aber nicht.

Sein Terminkalender signalisiert durch ein sanftes Klingeltoncrescendo das bevorstehende Mitarbeitergespräch. Der Anzug spannt etwas, der überdimensionierte Schreibtisch aus dunklem Holz ist aufgeräumt, vor ihm die blau kartonierte Personalakte. Er hat sich angewöhnt, unangenehme Gespräche am Freitag Nachmittag zu führen. Sie sind die Krönung der Arbeitswoche, die letzte Möglichkeit, Entscheidungsgewalt zu demonstrieren. Früher umgab diese Termine Unbehaglichkeit. Später wurden sie zur schlichten Notwendigkeit und mittlerweile verspürt er Tage vorher schon Vorfreude. Er öffnet die oberste Schublade des Schreibtisches und nimmt einen silbernen Füllfederhalter aus der Ablage. Das Endstück des Stiftes platziert er zielsicher in seinem linken Mundwinkel und dreht es. Mit der Zungenspitze kann er das Metall berühren, es umfahren, schmecken, tut es aber dieses Mal nicht. In seiner Position hat er gelernt, sich im richtigen Moment zurücknehmen.

Vor zwei Wochen hat er sich ein paar Tage Auszeit gegönnt. Er war wandern gegangen, hatte zwei Biographien gelesen, erledigte eine Routineuntersuchung beim Hausarzt. Mit flachgetretenen Füßen und chronologischen Details im Kopf, erfuhr er, dass seit geraumer Zeit ein Geschwür in ihm wächst. Von der Bauchspeicheldrüse dringt die Raumforderung in die umgebenden Weichteile, ignoriert anatomische Grenzen, infiltriert Nerven und Gefäße. Das er keine Beschwerden spürt, ist tückisch und typisch für diesen Tumor. Es gibt keine heilende Therapie, keine lebensverlängernde Aussicht, das nicht zu kontrollierende Gewächs wird sein Leben in den nächsten Monaten beenden. An seinem Schreibtisch sitzend, staunt er über die Macht der Natur, die, ohne dass er es bemerkt hat, ein zerstörerisches Wachstum in der Mitte seines Körpers entfacht hat. Den Stift legt er auf die Akte und denkt, das auch er diese Methode gerne anwendet, sie im Spiel um Einfluss und Macht benutzt: seine Umgebung lange im Unklaren lässt, sie mit einer Entscheidung überrumpelt, das Überraschungsmoment für sich nutzt. Dann wandert seine Aufmerksamkeit zu den Aktienkursen seines Portofolios, die sich in zickzack-artigen Verläufen auf seinem Monitor darstellen. Er ignoriert die Bezeichnungen und stellt sich die Schwankungen der Graphen als Bedürfnisse entlang seiner Lebensachse vor. Die rote Linie für die Liebe, die gelbe für materiellen Wohlstand, Violett für die Lebenszufriedenheit, das kräftige Grün für die Anzahl unerfüllter Wünsche.

Nach einem leisen Knacken in der Sprechanlage kündigt die Sekretärin die Ankunft der Mitarbeiterin an. Sie soll eintreten, entgegnet er kurz, erhebt sich und dreht sich zur blitzblanken Fensterfront, als würde er noch einen Moment die Aussicht genießen wollen. Mit dem Rücken zum Raum begutachtet er das schwache Spiegelbild seiner Gestik im Glas. Durch ein Spiel von Anspannung und Entspannung verändert er seine Gesichtszüge, wechselt von freundlich zu überrascht, dann zu empört und schließlich zu mitleidig, wie ein Schauspieler in der Garderobe. Drei Kategorien von Mitarbeitern hat er im Laufe der Jahre definiert. Die Verlierer, die Mitläufer, die andere Verlierer sind, und die Gewinner. Ein Unternehmen braucht sie immer alle, aber in der richtigen Zusammensetzung. Für die Zuordnung neuer Kollegen braucht er nur wenige Wochen, manchmal Tage. Dann kommt es, während der Probezeit, zu diesen Terminen und einer Entscheidung. Die junge Frau, deren Schritte er in diesem Moment auf dem Parkett hört, ist ein besonderer Fall.

Logik und Gefühle sind sich selten einig. Ein Mensch, der die Welt in kleinste Bestandteile zerlegt, Parameter definiert, diese in Funktionen packt und komplexeste Sachverhalte algorithmisch auflöst, ist begabt. Wenn dazu eine aufmerksame Empathie kommt, die Probleme im Entstehen erkennt, Bedürfnisse wahrnimmt und ihnen mit sozialer Kompetenz begegnet, ist das außergewöhnlich. In beiden Welten gibt es Experten, aber einzigartig ist, wenn sie in einer Person zusammenfallen. Die Gegenwart eines solchen Menschen beeindruckt und schüchtert ein. Die junge Frau ist attraktiv, weiß um ihre Fähigkeiten, was es nicht einfacher macht. Der dezente Duft ihres Parfüms liegt schon in der Luft, ihre Bewegung durch den Raum bricht plötzlich ab. Sie sagt seinen Namen und bevor er sich ihr zuwendet, schließt er kurz die Augen, um seine Sinne zu beruhigen.

Er bittet sie, Platz zu nehmen. Mit festem Blick schaut sie ihn an, die Hände auf dem Schoß, und sagt, bevor er das Gespräch eröffnen kann, dass sie eine Gehaltserhöhung möchte. Obwohl es nicht nach einer Forderung klingt, fühlt er einen Stich im Oberkörper, sein Mund wird trocken. In der Probezeit hat sich das noch keiner getraut. Der Anspruch ist gerechtfertigt, ohne Zweifel. Eine Mischung aus Wut und Bewunderung steigt in ihm auf. Diese Ambivalenz erzeugt in ihm in schneller Reihenfolge unterschiedliche Bilder. Ein wissbegieriges Kind, das seine Eltern überfordert und sich von ihnen entfremdet. Die Leuchtkraft eines Feuerwerkskörpers, der sich mit jedem Knall vergrößert und seine Funken im Dunkel der Nacht verteilt. Ein Programmcode, der in einer endlosen Schleife über den Bildschirm läuft und ein Problem löst, dass die Welt unsichtbar, aber tiefgreifend verändert. Er spürt den Wunsch, über ihre Zukunft zu entscheiden, daran teilzuhaben, seinen Einfluss nicht zu verlieren.

In diesem Moment kommen ihm die unzähligen einsamen Tage im Büro in den Sinn. Während die anderen Kollegen das Wochenende genießen, Familien gründen, Häuser bauen, Freunde treffen, zieht es ihn ins Büro. Sie nutzen die kurze Freizeit, um die lange Woche zu vergessen. Er braucht die Einsamkeit und die Arbeit, um im Gleichgewicht zu bleiben, die Anspannung zu halten, als Grundlage für seinen Erfolg. Was die Kollegen vergessen, auch die Freizeit unterliegt Pflichten, Beziehungen sind wie Geschäfte, Verträge mit anderem Inhalt. Die Stille in seinem Büro beruhigt ihn, die Größe des Gebäudekomplexes und sein Alleinsein darin, erzeugen ein erhabenes Gefühl. Das Wochenende dient der Ruhe, der Regeneration und Ablenkung, denkt er, und verzieht dabei den Mund zu einem geringschätzigen Lächeln.

An einem Samstag Abend vor einigen Wochen, er saß mit Akten bedeckt auf dem Loungesofa neben seinem Schreibtisch, überkam ihn eine innere Unruhe. Als er von den Unterlagen aufsah, spürte er die unerwartete Anwesenheit einer anderen Person. Die spärliche Beleuchtung des Raumes spiegelte sein Arbeitszimmer als schleierhafte Realität auf der großen Fensterfront. Dort meinte er im Schatten der geöffneten Eingangstür eine weibliche Silhouette zu erkennen. Den Blick auf sie gerichtet, näherte er sich ohne ein Wort zu sagen, erkannte sie ohne Licht. Dann fragt er, nicht, was sie am Wochenende hier wollte, sondern, was er für sie tun könnte, anerkennend. Ihre Entscheidung zu dieser Zeit ins Büro zu kommen, ihre bloße Anwesenheit schaffte eine metaphysische Verbundenheit. Er erkannte sich in ihr wieder und nahm sie gleichzeitig als mystisches Rätsel wahr. Im Halbdunkel sich gegenüberstehend, brauchte es keine Erklärung oder Antwort. Sie berührte seine Hand, führte sie, dann verloren sie sich in Unerwartetes, Menschliches, gaben ihre Distanz für Sehnsucht und Hingabe auf, getrieben von einer höheren Kraft.

Vorsichtig streichelt er über die erste Seite der geöffneten Akte. Die Erinnerung an die Zärtlichkeit ist noch da. Mit der anderen Hand berührt er das Hemd auf seinem Oberkörper, direkt über der Gürtelschnalle, fragt sich, ob der Tumor auch in diesem Moment wächst. Eine qualifizierte Beschreibung ihrer intimen Einmaligkeit fällt ihm nicht ein. Er bereut das Geschehene nicht, ist sich unsicher, was es mit ihm gemacht hat. Eine gemeinsame Zukunft kann es nicht geben, aus vielen Gründen. Warum kommen sich Menschen in einem Unternehmen näher? Weil sie Zeit im selben Raum verbringen? Gleiche Ziele haben oder gegenseitig Bestätigung bekommen? Weil sie ihre Einsamkeit in der arbeitsfreien Welt nicht mehr ertragen und Zuflucht suchen?

Im Erdgeschoss steht im Zentrum der Lobby ein Aquarium. Mitarbeiter und Besucher bleiben davor stehen, beobachten das bunte geräuschlose Treiben. Einmal am Tag streut der Pförtner Futter aus einer Dose in das Wasser. Die kleinen Flocken sinken langsam zum Boden und die Fische schnappen, ohne von ihren immer gleichen Bahnen abzukommen, gleichgültig nach dem Treibgut. Am Wochenende übernimmt er selbst das Ritual, ein verschrobener Dienst an der Gemeinnützigkeit. Die Schwebeteilchen verfolgt er in ihrer Trägheit, bemitleidet die gaffenden Kreaturen in ihrer Eintönigkeit. Das Biotop ist wie ein Käfig, ein definiertes und geschlossenes System, nicht unähnlich einem Unternehmen oder einer Familie. Von außen sichtbar, von innen unergründlich.

Längst hat er sich entschieden, sie zu kündigen. Er kann das Geschehene nicht rückgängig machen, muss jetzt Schaden abwenden. Die Schwäche, der er erlegen ist und die keiner Logik gehorcht, ist eine Gefahr. Die neue Ebene, die sie beschritten haben, hat eine beträchtliche Fallhöhe. Schwindelfrei ist er nicht, er führt ein kontrolliertes gewissenhaftes Singledasein, unterzieht jede Entscheidung einer peniblen Nutzen-Risiko Bewertung. Die Trennung ist in diesem frühen Stadium notwendig, sagen sein Verstand und seine Intuition. Das Übel konnte noch rechtzeitig identifiziert und muss mit chirurgischer Präzision im Ganzen entfernt werden, vor Symptombeginn, solange es noch möglich ist.

Annona muricata, Chlorella Algen und Nuni-Saft, einst Hirngespinste, jetzt letzte Hoffnungsschimmer gegen seinen Verfall. Die präzise Welt der Zahlen und Fakten, die sein Leben bestimmen, kann ihm nicht mehr helfen. Experimentelle Methoden sind seine letzte Wahl, B-Pläne gegen ungebremstes Wachstum. Wie schön wäre ihr Scheitern aus unternehmerischer Perspektive, wie grausam ihre Unwirksamkeit gegen biologische Gesetze. Mühsam hat er alternative, ganzheitliche, übersinnliche Verfahren recherchiert, Fallberichte gelesen, gehofft, auch er könnte profitieren oder eine Ausnahme sein. Später dann die ernüchternde Erkenntnis, er glaubt nicht daran.

Mit knappen Formulierungen führt er das Gespräch. Kurz schaut er ihr in die Augen, ein Fehler, der sich wie eine Lähmung in ihm ausbreitet. Er sieht in ihr Stärke, Durchhaltevermögen und Widerstandsfähigkeit, aber auch Gemeinsamkeiten und eine ungewöhnliche Kompatibilität. Sie weiß nicht um seine Prognose, seinen Gemütszustand, die Gleichgültigkeit seines Handelns. Der Vorfall abends im Büro ist unausgesprochen, suggeriert, sie hätten gegenseitiges Vertrauen. Nach diesem Treffen wird er kein Geheimnis mehr sein, könnte sich sogar zur Waffe wandeln. Während sie ihn mustert, hat er sich wieder sortiert und seine Deckung aufgebaut. Seine Haut hat noch keinen gelben Schleier, verhüllt noch sein Gebrechen. Schon bald wir man ihm seine Erkrankung ansehen, wenn die sich aufstauende Galle nicht mehr verstoffwechselt werden kann. Dann werden die Spielregeln sich ändern, er hat nichts mehr zu verlieren. Ihre Intimität wird zur Anekdote, das Druckmittel zum Wattebausch.

Den Empfang des Kündigungsschreibens bittet er mit Unterschrift zu bestätigen. Ein tadelloses Arbeitszeugnis ist in Vorbereitung. Er reicht ihr den Stift, der eben noch in seinem Mund war, an dem er an verzweifelten Tagen sich wund geleckt hat. Sie nimmt ihn nicht. Scheint mehr zu wissen, als er sich vorstellen kann. Sie mustert die aufgeräumte Oberfläche seines Schreibtisches, unaufgeregt und selbstsicher. Ihr Blick schweift wie ein Detektor durch das Büro, sucht Anhaltspunkte und kommt immer wieder zu ihm zurück. Sie lächelt und zuckt mit den Schultern. Dann schiebt sie die Hände aus dem Schoß langsam nach oben, bedeckt mit den Handflächen ihren Bauch, als würde sie ihn schützen wollen. Eine kleine beiläufige Geste, denkt er zunächst, aber dann erkennt er ihre Botschaft. Ihm wird heiß, sein Herz stolpert. Die Gedanken überschlagen sich in seinem Kopf, lösen das effiziente Ordnungssystem auf. Seine linke Hand ruht, aus anderem Grund, in ähnlicher Position auf seinem Körper. Ihre schützen das entstehende Leben, seine verstecken den bösartigen Zerfall. Der Selbsterhaltungstrieb der Natur gegen ihre eigene Vergänglichkeit am Schreibtisch gegenübersitzend. Ein überwältigendes Gefühl der Dankbarkeit und Sinnhaftigkeit überkommt ihn, aber er weiß nicht, wie er das ausdrücken soll. Er nimmt den Stift und zieht energisch eine Diagonale über das Blatt zwischen ihnen. Und kurz danach, als würde es nicht reichen, zerreißt er den Zettel in unzählige kleine rechteckige Stücke, die an Fischfutter erinnern.